Und wie es gelingen kann, sich trotzdem nicht erdrücken zu lassen.

Ich bin noch nicht lange zurück in meinem Betondeckel mit vier Wänden, doch ehe ich mich versehe, hat mich der Alltag wieder. Da sitzt er jetzt auf meinen Schultern und biegt mir das Rückgrat zurecht. Recht hat er! Ich war lange genug weg, konnte ihn ganz gut abschütteln. Aber so leicht wird man ihn nicht los, diesen widerlich ranzigen Kerl. Sei’s drum, dann laufe ich von nun an eben gebückt, bis der Sommer kommt. Bevor ich dann wieder abhau’, sperre ich das miese Drecksvieh in mein Zimmer ein – weglaufen wird er schon nicht.

Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, wie das ist, wenn das doppelte Gewicht auf deinem Rücken lastet und dich in den Stuhl drückt. Fast habe ich das Gefühl, mit jedem weiteren Wort an Körpergröße zu verlieren, und es scheint bloß eine Frage der Zeit, bis die Holzbeine meines Stuhls nachgeben und ich gemeinsam mit dem fetten Gnom am Hals zu meinen Nachbarn unter mir durchbreche. Wie soll ich das dem alten Pärchen bloß erklären? „Entschuldigen Sie, aber, ähm, ich bin über die Wintermonate leider etwas dicker geworden. Kommt nicht wieder vor. Schönen Abend noch!“ Wohl kaum…

Es ist faszinierend, wie fokussiert wir Menschen sind, wenn wir nur genau wissen, was wir wollen. Es passiert jedes Jahr aufs Neue. Sobald in Mitteleuropa das Thermometer fällt, die Tage kürzer und die Sonnenstrahlen schwächer werden, kriechen viele kaum mehr aus ihren Betonhöhlen hervor. Die Straßen werden leerer und der allgemeine Gemütszustand sinkt direkt proportional zur Temperatur. Doch einige begeben sich dann auf eine Reise, die erst unzählige Autostunden später – begleitet von miserablen Tankstellen-Espressos, witterungsbedingten Staus, schlechtem Radioempfang oder sich ewig wiederholenden Playlists – in abgeschiedenen Tälern endet. Weitere Einzelheiten erspare ich mir aufgrund des Umstandes, dass derartige Erzählungen bereits oft genug durchgekaut, geschluckt und wieder hochgewürgt wurden.

Ich bin kein Frühaufsteher. Wer behauptet, Morgenstund’ habe Gold im Mund, ist entweder auf Drogen oder weit über 30, wenn die meisten eh an seniler Bettflucht leiden. Ich muss aber gestehen, heuer hat es sich mehr als einmal ausgezahlt noch im Stockdunkeln das Gefährt meiner Wahl zu besteigen, um Stunden später in einer weißen Märchenlandschaft zu stehen. Dabei war der Winter angeblich verdammt schlecht. „Es woar überhaupt ka Schnee!“, erklärte mir einer, der sich wohl lieber mit Wetterkarten und Niederschlagsmodellen beschäftigt hat, als einfach seinen Arsch in Bewegung zu setzten.

Aber warum tun wir das? Dafür gibt es zwei Gründe: Weil’s geil ist und weil uns der Alltag dort oben in Ruhe lässt. Dort kann er nicht hin! Zwar wird die Bewegung auf ein oder zwei Brettern in überm..ig hohen Dosen auch irgendwann „Alltag“, aber es ist nicht derselbe übergewichtige Ballast, der uns sonst zum Glöckner von Betonien macht. Also treibt uns die Flucht vor Gevatter Alltag, wie wir ihn kennen, immer wieder hinaus und verwandelt das, was wir so gerne tun, in eine große Leidenschaft. Sie ist es, die daheim jeden Morgen dem Alltagsgollum, der sich über Nacht versucht hat anzuschleichen, einen eleganten Roundhouse-Kick Richtung Fenster verpasst.

All jene, die es geschafft haben bis hierhin zu folgen, werden sich fragen, worauf dieser Text denn eigentlich abzielt. Nun, ursprünglich wollte ich einen Tripreport der etwas anderen Art verfassen, woran ich anscheinend gescheitert bin. Doch vielleicht auch nicht, denn der Winter an sich stellt schon eine Reise dar. Die Distanz und Diskrepanz zwischen Berg und Stadt lässt viele zwischen zwei verschiedenen Welten hin- und herspringen, die beide ihre Rolle einfordern. Wir pendeln und passen uns der jeweiligen Umwelt an. Mal versucht man, aus einem Tag das Bestmögliche herauszuholen. Mal passiert alles wie von selbst. Und oft kommt alles ganz anders als gedacht. Deshalb bevorzugen wir den Trip gegenüber der Pauschalreise. Egal für welche Variante ihr euch entscheidet, es sollte aus freien Stücken geschehen und aus dem ursprünglichen Verlangen etwas im Leben zu erleben. Auf dieses Stück Freiheit solltet ihr achten, denn diese Leichtigkeit kann euch kein noch so schwerer Alltag nehmen.

für Magazin Downdays – Agentur distillery.cc

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Der alte Mann, der kleine Schritte geht.

Er hat große, dürre Hände in denen er die letzten Reste seines Kebabs hält. Früher war es eine Waldviertler, aber den Würstelstand auf der falschen Seite des Karl-Renner-Rings gibt es schon längst nicht mehr. Er trippelt – obwohl seine Schrittlänge fast zu kurz für ein Trippeln ist. Watscheln kann man es aber auch nicht nennen, dafür wackelt seine Hüfte zu wenig. Fast hätte ich ihn übersehen, weil die Lichter an meinem Rad gerade kaputt und die Laternen in der langen Kurve vor dem Schwarzenbergplatz wie immer ausgefallen sind. Eigentlich habe ich ihn nur ganz kurz gesehen – ich glaube er hat mich gar nicht richtig wahrgenommen, so konzentriert war er auf seine Schrittfolge und das Hindernis Bordsteinkante. Man muss sich einmal überlegen wie das ist, wenn die Schritte ganz kurz und unkoordiniert sind. Du musst dich ja trotzdem irgendwie auf den Schritt ins unvermeidbar Leere vorbereiten. Aber er hat ja ausreichend Zeit darüber nachzudenken – bei der Schrittlänge. Er hat mich trotzdem nicht gesehen oder  einfach gekonnt ignoriert. Wer weiß das schon. Auf jeden Fall muss er also den Gehsteig runter, auf der gegenüberliegenden Seite wieder rauf, dann wieder runter, die Nebenfahrbahn überwinden und danach ein letztes Mal wieder hinauf. Drei ganz wichtige Doppelschritte für ihn, die bei einem Fehltritt, den Sturz und eine Reihe von mühseligen, zusätzlichen Anstrengungen heute Abend bedeuten könnte. Vielleicht sogar Schlimmeres wenn die Taxler nicht aufpassen. Ich hab mich noch mal umgedreht da hat er die erste Hürde bereits bewältigt und wenn man von Weiten nur kurz hingesehen hätte, könnte man meinen er würde sich gar nicht bewegen, so klitzeklein waren seine Schritte.

F Punkt

Nichts zu tun liegt F. fern. Das war schon immer so. Sein Körper sträubt sich dagegen. Da braucht man wirklich nix schön reden. F. ist einfach ein unruhiger Geist. Einer, der nie wirklich zufrieden ist, den man hoch jauchzend feiernd oder zutiefst traurig, aber eben nie zufrieden antrifft. Einer, der gar nicht anders kann, der eben nicht das kann was andere können – sich mit dem Nichts tun einfach abzufinden. Der kann nicht aus seiner Haut, selbst wenn man sie ihm abziehen würde. Der F. kann einfach nur tun; aber eben nicht, Nichts tun. F. ist am ausgeglichensten wenn er Vieles tut und am Besten alles gleichzeitig. Der F. ist so etwas wie…heutzutage würde man Workaholic dazu sagen. Der F. braucht einfach Beschäftigung; das war schon als Kind so. Er konnte sich ganz gut alleine unterhalten, aber im Austausch mit Freunden fand er mehr Glück. Tief traurig war er jedoch an heißen Sommertagen, wenn keiner seiner Freunde Zeit für ihn gefunden hatte, weil alle mit ihren Familien baden waren und er dazu verdammt war in seinem Kinderzimmer Cowboy und Indianer zu spielen. Das hat er gar nicht gemocht. Hat er auch nicht lang gemacht. Irgendwann hat er dann angefangen zu lesen. Lindgren, Nöstlinger, Kästner usw., hat er aber bald wieder aufgegeben. Er wollte lieber Etwas machen, also Bewegung. Bewegung für den Kopf. Das hat ihn befriedigt und ihm gesunden Schlaf gebracht.

Und Schlaf ist wichtig für Kinder. Jetzt sagt F. immer er hat zu tun, viel zu viel zu tun und er weiss gar nicht wie er alles unter einen Hut bringen soll. Wie er das alles schaffen und wo er überhaupt anfangen soll? Er fragt mich dann immer warum der Tag nur 24 Stunden hat, weil er der Zeit ständig hinterher rennt. Die ist ihm aber immer einen kleinen Schritt voraus und deswegen hat er sich jetzt ein schnelles Auto gekauft und ein ganz schnelles Handy mit noch viel schnellerem Internet und noch viel mehr Möglichkeiten Dinge gleichzeitig zu tun. Da kann er sich ein wenig Zeit sparen, die er dann wieder in etwas anderes hineinstecken kann, weil Zeit darf man nicht vergeuden, Zeit muss man nutzen. Aber eigentlich hat er ja gar keine Zeit und er muss schon wieder weiter und gibt mir zur Verabschiedung ganz flüchtig die Hand. Ich sehe dem F. nach wie er zum Auto läuft und dazwischen noch schnell drei E-Mails bearbeitet – wohlgemerkt mit einer Hand und ohne auf den Display zu schauen. Der F. kann einfach nicht anders. Das Witzige an der Sache ist und das würde sich F. niemals eingestehen, soviel zu tun zu haben macht ihn ja insgeheim glücklich und insofern ist er ja eh zufrieden, auch wenn er es gar nicht will.

Trilogie
auf leisen Pfoten

Rodrigo.

Ich sehe ihn oft am Heldenplatz sitzen. Immer am selben Platz. Gleich links neben den Toren wo die Stiegen beginnen und gegen Norden abflachen. Dort sitzt er im Schatten der Saeulen und spielt auf seiner Gitarre. Ich nenne ihn Rodrigo, weil es einfach ein passender Name ist, fuer einen suedlaendischen Typen wie Rodrigo. Ein schoener Name wie ich finde. Rodrigo spielt mit wahrer Leidenschaft, die Augen stets geschlossen, waehrend die flinken duennen Finger ueber die Saiten fliegen. Ich glaube, Rodrigo hat gerade diesen Platz gewaehlt, weil ihm die hohen Saeulen, der kalte Marmorboden und das flache Dach solch klare Resonanz schenken. Manchmal hat es fast den Anschein, er spielt im Takt der Fiakerpferde, die gleichmaessig rhythmisch ueber den dunklen Beton des Platzes klappern. Ein Hub nach dem anderen, ein Ton nach dem anderen. Mein Blick schweift von ihm ab und ich geniesse die letzten Sonnenstrahlen eines lauen Fruehlingstages, bevor sie hinter den Daechern der Hofburg verschwinden. Jetzt ist Rodrigo gegangen. Und mit ihm der Klang der Pferde.

Anna.

Eine Frau liegt an einem Strand und traeumt. Traeumt von einem besserem Leben. Sie hat langes, dicht gelocktes blondes Haar und eine Nase, gleich einer Sprungschanze. Sobald ihr Mann mit ihrer Tochter hinter den grossen Sonnenschirmen verschwindet, zuendet Sie sich eine Zigarette an und traeumt. Sie geniesst jeden einzelnen Zug. Waere es nicht von ihrem Mann verboten worden, wuerde Sie vermutlich nicht rauchen. Sie raucht und traeumt. Meistens von Frauen, starken, unabhaengigen und gebildeten Frauen. Von solchen, die Sie in den amerikanischen Spielfilmen, die ihr Bruder von seinen Schiffsreisen immer mitbringt, sieht. Sie waere gern wie die. Ihre Tochter ist wunderschoen. Sie hat wie sie blondes gelocktes Haar und tuerkisblaue Augen. Ihre Tochter liebt Sie, ihren Mann schon lange nicht mehr. Sie traeumt noch immer, waehrend ihr Mann und ihre Tochter kommen aus dem Wasser zurueck – die Zigarette ist zu Ende geraucht und mit ihr der Traum erloschen. Eine Frau lag an einmal einem Strand und traeumte.

Alina.

Sie betrachtet sich im Badezimmerspiegel ihrer Eltern, taeglich und das mehrmals. Sie betrachtet sich gern besonders im Abendenlicht der Daemmerung, denn es betont das Orange ihrer sonnengebrauunten Haut. Wieso auch nicht – sie ist schliesslich schoen. Und schoen zu sein reicht ihr. Zumindest tat es das anfangs; frueher als sie gerade noch ein Kind war und erkannte, dass die Jungs ihr nicht nur ihrer langen Beine wegen nachsahen. Kurz danach passierte es das erste Mal. Ein Freund ihres Vaters. Er war oft bei ihnen zu Besuch; auch danach noch. Da war Alina elf Jahre alt.  Als Alina Vierzehn wurde vergriff sich das zweite Mal ein Mann an ihr und sie verliess die Stadt. Sie traumte von einer besseren Zukunft und fuhr von Ost nach West, von Nord nach Sued und blieb mal hier oder dort. Alina betrachtet sich im Spiegel: ihre Augen sind blau unterlaufen, ihre Wangen rot und ihre Nase schief, schief von den ewigen Schlaegen. Sie blickt aus dem Fenster, gegenueber blinkt die rote Leuchtanzeige eines Motels. Alina packt ihre Sachen, zieht sich an und verlaesst das Zimmer. Ihr Kunde schlaeft. Sie denkt sie ist schoen, schoen wie die Nacht.